Blicke | Körper | Distanz
Der deutsche Expressionist Otto Mueller (1874 – 1939) gilt ein zentrales Mitglied der Künstlervereinigung „Die Brücke“. Und wie in dieser Zeit üblich, war er auf der Suche nach dem „Ursprünglichen“ und „Unverbrauchten“. Diese Themen fand er sowohl in der ägyptischen Kunst, der scheinbar offenen Lebensweise der Menschen in den damals neuen Kolonien des Deutschen Reichs und in den Bevölkerungsgruppen der Sint:izze und Rom:nja.
Anlässlich des 150sten Geburtstags von Otto Mueller, werden seine Arbeiten unter verschiedenen, neuen Blickwinkel betrachtet. Seine überwiegend weiblichen Körperdarstellungen werden unter dem Blickwinkel der Gender- und Geschlechterfragen befragt. Auch werden die romantisierenden und stereotypisierenden Darstellungen von Minderheiten unter die Lupe genommen und Arbeiten von Gegenwartskünstlerinnen gegenübergestellt. Muellers Bilder werden nicht verbannt, sondern neu bewertet und somit das Verständnis für die Kulturen geschärft.
Das Buch beginnt, nach Vor- und Grußwort, mit der Biografie Otto Muellers. Diese ist geschickt neben die Chronologie seiner Ausstellungen und einem Abriss der wichtigsten, relevanten Ereignisse der Weltgeschichte gesetzt. Danach folgen die kontroversen, aber reich bebilderten Aufsätze über Mueller als Mensch, über seine Werke und natürlich den Diskurs, den seine Arbeiten hervorrufen.
Diese Auseinandersetzung ist notwendig, da sich bisher fast ausschließlich eine „Tendenz zu stereotypischen Zuweisung“ zeigte – kritische Betrachtungen wurden abgelehnt. Die Ausstellung „Otto Mueller“ versucht sich nun, dem Schaffen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und stellt sich der Frage: „Wie kann ein Museum der künstlerischen Einzigartigkeit gerecht werden und gleichzeitig die aktuelle Debatte darstellen?“
Muellers Arbeiten – eine kontroverse Annäherung
Muellers Eindrücke waren vielfältig – zum einen die Freundschaften zu Künstlerkollegen der Künstlergruppe Brücke Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Max Pechstein, der nicht-europäischen Kunst der ehemaligen Kolonien, der Industrialisierung, der Freikörperkultur, der Erste Weltkrieg und der persönliche „Sehnsuchtsort“ Osteuropa.
Die Fragen werden gestellt: Wessen Blick ist hier wiedergegeben? Sehen wir als Beobachter die Perspektive des weißen, männlichen Malers? Oder die des Künstlers seiner Zeit? Wer waren die Modelle? Ware sie selbstbestimmt? Und wie schauen wir heute auf die Werke und wie sollen wir uns heute den Arbeiten des Künstlers Otto Muellers nähern?
Aber auch ganz konkreten, aktuellen Fragen widmet sich die Ausstellung:
- ist es legitim, die Werktitel zu verwenden, die der Künstler gewählt hatte, auch wenn darin Sinti:zze und Rom:nja mit diskriminierenden Namen bezeichnet werden?
- Wie geht man mit romantisierten Darstellungen von Bevölkerungsgruppen um?
- Wie wirken die weiblichen Akte – ein beliebtes Motiv Muellers – im heutigen Kontext der MeToo-Bewegung?
- …
Die Widersprüche und Ambivalenzen, werden unter anderem durch die Künstlerin Natasha A. Kelley herausgearbeitet, die die Beziehung Muellers zum deutschen Kolonialismus untersucht. Malgorzata Mirgas-Tas, Luna De Rosa und Vera Lacková untersuchen die Sterotypisierung von Sinti:zze und Rom:nja.
Der Ausstellungskatalog „Otto Mueller – Blicke – Körper – Diszanz“ beinhaltet neben einer Vielzahl an Abbildungen von Otto Muellers Werken, Aufsätze, die sich kritisch mit den Motiven und den Hintergründen des Künstlers befassen. Hinzu kommt die Diskussion, einer Expertengruppe, die sich den folgenden Themen stellen:
- der männliche Blick auf den weiblichen Körper
- der weiße männliche Blick auf den schwarzen Körper
- der weiße männliche Blick auf den Körper von Sint:izze und Rom:nja
- der Umgang von europäischen Künstler:innen mit afrikanischen Objekten.
So ist das Buch ein gleich in doppelter Hinsicht ein spannendes Werk – zum einen widmet es sich dem künstlerischen Schaffen Otto Muellers – zu Recht gehört er zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismus. Zum anderen wird auch die aktuelle Debatte betrachtet und Mueller unter den heutigen Gesichtspunkten betrachtet, ohne etwas verbieten zu wollen.
Die Otto Mueller Ausstellung wurde vom LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster auf die Beine gestellt, die auch Grundlage für den vorliegenden Ausstellungskatalog und die Aufsätze wurde.
Zum Ausstellungskatalog:
Otto Mueller
LWL-Museum für Kunst und Kultur (Hrsg.), Tanja Pirsig-Marshall (Hrsg.), Flora Tesch (Hrsg.)
E.A. Seemann Verlag