„Ich sehe was, was du nicht siehst!“ So könnte der alternative Titel des Buchs von Wieteke van Zeil, der Kunst-Historikerin und – Journalistin aus Den Haag lauten. Denn in der Tat, sieht sie Dinge auf Werken alter Meister, die mir selbst beim 2ten der 3ten mal hinschauen, entgehen würden.
Wieteke nimmt den Leser mit auf eine investigative Entdeckungsreise und zeigt uns Details in alten Bildern, die zumindest mich verblüfft haben. Wie konnte ich das nur übersehen und ignorieren? Und nicht nur das – diese Details haben einen Hintergrund und eine tiefere Bedeutung, die die Aussage des Bildes, wenn nicht verändern, so doch zumindest ergänzen. Unsere Blindheit reibt uns die Kunstdetektivin genüsslich unter die Nase, verpackt in kleine, symphytische Anekdoten, die ihre eigene Blindheit beschreiben. Und natürlich gibt´s den Superblick nicht einfach so – Erkennen und Wissen muss sich jeder hart erarbeiten.

Die Erfahrung des oberflächlichen Betrachtens musste auch die Autorin machen und gibt das auch offen zu. Und so gibt sie den Leserinnen on Top gleich einige Erkenntnisse mit auf den Weg, um künftig „besser“ sehen zu können.
So empfiehlt sie beispielsweise, Informationen einfach mal zu ignorieren. Manche Bilder sind einfach überladen mit Motiven und Gegenständen, so dass man sie dringend vor-auswählen und isolieren sollte, um den Fokus nicht zu verlieren.
Auch hilft es, Vertrautheit zu schaffen. Zieh heran, was du weißt, denn man kann nur das sehen und erkennen, was man auch kennt – selbst wenn es ganz banal aus der Werbung ist, völlig egal!
Und der Klassiker: Weg mit dem Smartphone! Digital Detox auch im Museum, denn es lenkt nicht nur ab, sondern wir sehen die Werke durch das Display mit den Augen von Facebook und Instagram. Die Fotos sollen ja gepostet werden und Interesse bei Followern wecken. Somit geht die Betrachtung der Kunst automatisch in Richtung „Superlativ“ und versperrt den Blick für die Feinheiten am Rande.
Wenn der Leser die Grundlage des erfolgreichen Betrachtens erst einmal kennt, geht´s ans Eingemachte und Frau van Zeil nimmt uns mit in die Museen und Ausstellungen der Welt und zu alten Meistern. Bevor im Buch das Bild in seiner Gesamtheit präsentiert wird, werden zunächst kleine Ausschnitte daraus vorgestellt und kurioses Hintergrundwissen vorgestellt. Harte Detektivarbeit und Persönliches, um der Aussage des Künstlers auf die Schliche zu kommen!
Abgerundet wird das „Lehrbuch des Betrachtens“ durch Interviews mit Experten in Sache Sehen. Das Interessant daran ist: Diese sind nicht im Fachbereich Kunst unterwegs, sondern in ganz anderen Bereichen, in denen Sehen überlebenswichtig ist.
So kommt einen klinische Genetikerin, ein Polizeikommissar, ein Fluglotse und ein Wetterexperte zu Wort. Alle berichten, wie wichtig für sie und für ihren Job das Sehen und Erkennen ist und wie diese Eigenschaften geschult werden können.
Ein grandioses und zugleich überraschendes Buch, das mich garantiert künftig anders durch die Museen gehen und sehen lässt. Aber wie so oft im Leben, macht auch hier Übung erst den Meister!
Über die Autorin und die Übersetzerin:
Wieteke van Zeil, wurde 1973 in Den Haag, Niederlande, geboren. Sie ist Kunsthistorikerin, Kulturjournalistin und Autorin und arbeitete für viele Jahre in Museen. Heute schreibt sie über Alte Meister und moderne Sitten und ist auf Instagram mit ihrem Kanal „artpophistory“ sehr erfolgreich.
Ihre wöchentlich in der niederländischen Zeitung „de Volkskrant“ erscheinende Kolumne „Eye for Detail“ wurde 2015 mit dem European Newspaper Award ausgezeichnet.
BÄRBEL JÄNICKE übersetzt wissenschaftliche Texte und literarische Sachbücher aus dem Niederländischen. Sie studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie in Frankfurt und Saarbrücken und lebt heute in Berlin. 2021 wurde sie mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Details zum Buch:
Sieh hin!
Ein offener Blick auf die Kunst
Wieteke van Zeil
aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke
E.A. Seemann Verlag