8. MAI BIS 17. AUGUST 2025
Frankfurt am Main, 25. März 2025. Der Körper ist politisch – das zeigen die Arbeiten der Künstlerin Annegret Soltau (*1946) wirkungsvoll. Seit den 1970er-Jahren erregt ihre Kunst Aufsehen und hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Galt Soltau trotz ihrer kunsthistorischen Bedeutung lange Zeit als Geheimtipp, zählt ihr Werk heute zu den wichtigsten Positionen feministisch inszenierter Fotografie und Body Art.

Permanente Demonstration #3, 19.1.1976, 1976
Galerie Anita Beckers, Frankfurt am Main
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Krause & Johansen
„Mit Annegret Soltaus radikaler Formensprache und ihrer furchtlosen Dekonstruktion des menschlichen Körpers eröffnen sich uns neue Perspektiven auf Identität, Körperlichkeit und künstlerische Selbstbestimmung. Ihre Kunst ist ausdrucksstark und war ihrer Zeit voraus. Mit dieser ersten Retrospektive würdigen wir mehr als fünf Jahrzehnte künstlerisches Schaffen von Annegret Soltau. Gleichzeitig unterstreicht das Städel Museum seinen Anspruch, wegweisende Künstlerinnen sichtbar zu machen und ein breites Publikum zur Auseinandersetzung mit essenziellen Themen der Gegenwartskunst anzuregen“
Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums
In mehr als fünf Jahrzehnten hat sich die Künstlerin mit ihrer eigenständigen, radikal feministischen Bildsprache allen Widerständen zum Trotz als unverzichtbare Stimme der Gegenwartskunst etabliert. Das Städel Museum widmet ihr erstmals eine Retrospektive, die gemeinsam mit der Künstlerin entwickelt wurde. Mit über 80 Werken gibt die Ausstellung einen umfassenden Einblick in ihr vielschichtiges
Gesamtwerk: von Zeichnungen über erweiterte Fotografie und Video bis hin zu Installationen. Darunter sind wegweisende, zum Teil bisher noch nicht veröffentlichte Arbeiten aus Soltaus Studio. Wichtige Leihgaben aus renommierten Institutionen wie der Sammlung Verbund in Wien, dem Louisiana Museum of Modern Art in Humlebaek, dem Lenbachhaus in München und dem ZKM Karlsruhe ergänzen die
Ausstellung.
Die Ausstellung wird gefördert von der Art Mentor Foundation Lucerne, der Hessischen Kulturstiftung, der Alexander Tutsek-Stiftung und vom Städelschen Museums-Verein e. V. Weitere Unterstützung erhält sie durch Yoram Roth sowie die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.
Feminismus, Körperpolitik und die Herausforderung der menschlichen und weiblichen Identität sind zentrale Themen in Soltaus Werk. Dafür entwickelt sie eigene, innovative Techniken, die die Grenzen der Fotografie überschreiten – die Fotoübernähung und -vernähung sowie die Fotoradierung. In ihren Selbstporträts

Chirurgische Operationen II, 11.10.2001, 2001
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Fotodesign Hefele Darmstadt – Germany
hinterfragt Soltau Rollenbilder von Frauen und beleuchtet gesellschaftliche Normen, indem sie komplexe Gefühlswelten, innere Konflikte und emotionale Zustände sichtbar macht. Seit Ende der 1970er-Jahre widmet sie sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit Schwangerschaft und Mutterschaft – Themen, die über Jahrhunderte in der Kunst unterrepräsentiert waren und erst in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Gesellschaft und Kunstwelt gerückt sind. Das Altern des weiblichen Körpers und Fragen der Vergänglichkeit finden in ihren Arbeiten eine eindringliche Form. Soltaus Werke waren immer wieder der öffentlichen Zensur ausgesetzt, ihre Darstellungen wichen von etablierten ästhetischen Konventionen ab und wurden als provokant empfunden. Die Ausstellung im Städel Museum leistet eine wichtige Korrektur dieser Rezeption und ist zugleich eine längst überfällige Würdigung dieser großen Feministin und Künstlerin.
Svenja Grosser, Leiterin der Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung, fasst zusammen: „Annegret Soltau nutzt den Körper, ihr eigenes Selbst als Austragungsort für die Verhandlung von gesellschaftlichen Strukturen. Mit ihren radikalen Fotovernähungen hat sie eine völlig neue künstlerische Formensprache geschaffen und den weiblichen Körper als Medium der Selbstermächtigung etabliert.
Svenja Grosser, Leiterin der Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung
Während sie international anerkannt ist, machte sie hierzulande wiederholt einschneidende Erfahrungen mit Zensur. Wir möchten diese gegensätzliche Rezeption korrigieren und die Künstlerin Annegret Soltau als das vorstellen, was sie ist: eine Pionierin der feministischen Kunst in Deutschland.“

Vatersuche, XIV 11.4.2003, 2003
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Fotodesign Hefele Darmstadt – Germany
Rundgang durch die Ausstellung
Die Ausstellung bietet eine Begegnung mit Annegret Soltaus Gesamtwerk in Form eines ebenso thematisch wie chronologisch angelegten Rundgangs. Zu Beginn werden die Besucher mit den Hauptwerken der Künstlerin, aber auch der Causa der Zensur konfrontiert, der Soltaus Schaffen ausgesetzt war. Wiederholt führte ihre singuläre Bildsprache sowohl zu institutionellen als auch öffentlichen Gegenreaktionen, wenn in ihren Arbeiten der weibliche Körper in fragmentierter Form
erscheint. Charakteristisch für ihr Schaffen ist dabei die Bearbeitung von Fotografien mittels Nadel und Faden. Ihre Vernähungen entstehen, indem sie Fotografien ihres eigenen Körpers sowie ihr nahestehender Personen zerreißt und die Fragmente mit schwarzem Faden neu zusammensetzt. Das traditionelle Handwerk des Nähens, das häufig mit weiblichen Rollenbildern assoziiert wird, verwandelt Soltau in eine
künstlerische Strategie, die zugleich dokumentiert, verfremdet und vergegenwärtigt. Dabei geht es ihr nicht nur um die Darstellung subjektiver Erfahrungen, sondern auch um die Aufdeckung gesellschaftlicher Muster und Vorurteile.
Die Frauenporträts der frühen 1970er-Jahre, die auf Papier entstanden, offenbaren eindrucksvoll, dass ihr innovativer Ansatz in der Fotografie bereits seinen Ursprung in der Grafik hatte. In Überzeichnete Frau (1972) spannen filigrane Fineliner-Striche den nackten Körper ein, während in Umsponnene (1973) die Linien zu einem Netz verdichtet werden, das das Gesicht umhüllt. Diese zeichnerischen Arbeiten erfuhren
in den Folgejahren eine physische Erweiterung: In ihren Radierungen ritzte und ätzte Soltau Linien in Kupferplatten. Die Motive Fäden, Netze und Haare als Sinnbilder für Beziehungen und Zwänge haben in diesen früheren Arbeiten ihren Ausgangspunkt.
In Spinne (1978) arbeitet sie mit organischem Material, indem sie echte Spinnweben konserviert und als fragile, aber unausweichliche Strukturen sichtbar macht. Ein Großteil dieser Werke wird im Städel Museum erstmals präsentiert. Die 1970er-Jahre waren geprägt von gesellschaftlichem Umbruch und avantgardistischen Strömungen wie Fluxus, feministischer Kunst und Body Art. Auch Soltau wagte den Schritt in die Performancekunst: In Permanente Demonstration (1976) verband sie Zuschauer mit schwarzem Nähgarn zu einem bewegungssensitiven Netzwerk. Parallel dazu experimentierte sie mit Fotografie: In Selbst #1 (1975) umhüllte sie ihr Gesicht mit Fäden und dokumentierte den Prozess des Umwickelns und des Durchtrennens sowie das hinterlassene Knäuel als reales Objekt. Diese Technik entwickelte sie weiter zur Fotovernähung, in der sie verschiedene, zerrissene Aufnahmen von sich selbst oder ihrem engsten Umfeld mittels Nadel und Faden neu zusammenfügte. In Mit mir Selbst (1975/2022) verbindet sie ihr eigenes Porträt aus verschiedenen Zeiten: Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander.

Geteilte MUTTER-Säule, 1980/81
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Ulrike Hölzinger-Deuscher
Mit ihrer ersten Schwangerschaft 1977 integrierte Soltau ein bis dahin in der feministischen Kunst weitgehend tabuisiertes Thema in ihre Arbeit: die existenzielle Erfahrung werdender Mutterschaft. Ihre Tages-Diagramme (1977) fassen Gedanken, Ängste und Zweifel in Mindmap-ähnlichen Notizen zusammen, die durch feine Linien verbunden sind. Sie verdeutlichen auch die konzeptuelle Ebene in Soltaus Werk. In Ich wartend (1978/79) zeigt sie sich mittels ihrer eigens entwickelten Technik der
Fotoradierung nicht in romantischer Vorfreude, sondern mit intensiver Ambivalenz.
Bild für Bild löst sich der Körper mittels feiner, zuvor in das Negativ eingeritzter Linien immer weiter auf. Die körperliche Realität vergegenwärtigend, wächst in Geteilte MUTTER-Säule (1980/81) der schwangere Bauch sukzessive, bis er den ganzen Bildraum einnimmt. In Serien wie Nähe (Selbst mit Sohn) (1980–1985) oderSymbiose (1981) verhandelt Soltau die komplexen Facetten von Mutterschaft
zwischen Einheit und Trennung.

Mit mir Selbst, 1975/2022
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Rolf Gönner
In den Jahren 1977 bis 1990 setzte sie sich intensiv mit der oft als unvereinbar geltenden Doppelrolle von Künstlerin und Mutter auseinander. Die Serie Mutter-Glück (1977–1990) hinterfragt mit schonungsloser Offenheit, was von der eigenen Identität bleibt, wenn gesellschaftliche Erwartungen absolute Hingabe verlangen. Für ihre Collagen zerriss sie Porträts von sich und ihren Kindern und nähte sie mit
schwarzem Faden wieder zusammen. Abzüge von mit Schrift überzogenen Negativen, auf denen Phrasen wie „Mutter GLÜCK Kinder HASS“ stehen, machen den emotionalen Zwiespalt sichtbar.
Die enge Verbindung zwischen persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Themen zieht sich durch Soltaus gesamtes Werk. In ihrer Serie generativ (1993– 2005) hat die Künstlerin die weibliche Generationslinie ihrer Familie fotografisch festgehalten und vereint durch die Verwebung der Frauen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Bereits in den 1990er-Jahren griff Soltau Debatten der dritten Welle der Frauenbewegung auf. Ihre auf generativ aufbauenden Werkkomplexe transgenerativ und hybrids (1990–2010) hinterfragen binäre Geschlechterkategorien: Indem Soltau Fragmente unterschiedlicher Körper zusammenfügt, lotet sie die biologischen Grenzen der Individualität aus. Zudem
unterstreicht sie, dass Geschlechtlichkeit als ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept zu verstehen ist, das in sozialen, kulturellen und politischen Diskursen fortlaufend neu definiert wird. Die Frage, was Identität bedeutet, ist ein zentraler Pfeiler in Annegret Soltaus Schaffen. Ein autobiografisches Langzeitprojekt stellt Vatersuche (seit 2003) dar, in dem sie ihre teils unbekannte Familiengeschichte künstlerisch bearbeitet. Während eines mehrjährigen Prozesses der Spurensuche wandte sie sich an Archive und Institutionen, um Hinweise auf die Existenz des Vaters zu erhalten. Diese Suche setzte sie in ihrer Kunst um, indem sie ihr eigenes Gesicht aus Selbstporträts entfernte und stattdessen Dokumente, Briefe und Landkarten vernähte. Den Abschluss der Ausstellung bildet die Serie personal identity (seit 2003), die Identität jenseits des klassischen Porträts reflektiert. Anstelle eines Gesichts zeigt sie amtliche Dokumente, Bankkarten und Zeugnisse, die mit dem Passbild der Künstlerin vernäht sind. Soltau stellt damit den Wandel der Identitätszuschreibung im digitalen Zeitalter zur Diskussion. Diese Serie wird kontinuierlich erweitert und soll erst mit der Sterbeurkunde der Künstlerin abgeschlossen werden – eine letzte Verhandlung der Konstruktion und Vergänglichkeit von Identität.
Details zu Ausstellung:
Unzensiert | Annegret Soltau – Eine Retrospektive
8.5.2025–17.8.2025
Schaumainkai 63,
60596 Frankfurt am Main